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Die perfekte Schlange

Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen sich in Schlangen stellen. Ein klassisches Beispiel ist die Supermarktkasse. Die Schlange ist Ausdruck  zivilisierten Verhaltens: Alle haben dasselbe Ziel, stellen sich jedoch gesittet hinten an. Hier fällt es leicht zu warten. Ob der Kopfsalat nun zehn Sekunden früher oder  später in unseren Besitz übergeht – geschenkt. So sind sogar Szenen möglich, die von Großmut zeugen, wenn  etwa Mütter quengelnder Kinder vorgelassen werden.

Vollkommen anders sieht es aus, wenn es tatsächlich um etwas geht. Im schlimmsten Fall um etwas Rares. Wer  je versucht hat, an Klamotten zu kommen, die ein  gefeierter Designer für eine Billig-Mode-Kette entworfen hat, weiß, dass hier von zivilisierten Verhalten keine Rede mehr sein kann. Aufgeregte Mädchen und Frauen prügeln sich um alles, was sie greifen können. Schnitt und Größe – vollkommen egal.

Nun muss bei einem neuen Mobiltelefon eines US-Konzerns wie Apple niemand ernsthaft befürchten, dass  es nicht genügend Geräte geben könnte. Hier geht es nicht in erster Linie um den Besitz – sondern vor allem um den Zeitpunkt. Tausenden Menschen ist die Tatsache, zu den ersten zu gehören, die das heiß ersehnte Gerät in Händen halten, stundenlanges Schlangestehen wert. Ein Wert, der sich auch ganz konkret in Geld ummünzen lässt: So stehen etliche nur an, um ihre Plätze kurz vor  Ladenöffnung zu verkaufen.

Eine clevere Geschäftsidee, die nach purstem  Kapitalismus klingt – aber nicht neu ist. 

Perfektioniert wurde das Schlangestehen in einem anderen System: So gab es in der DDR nicht nur gemietete Stellvertreter in der Schlange. Erzählt wird auch von „Schlangen-Komitees“, die Listen führten, wer in welcher Schlange an welcher Stelle stand.

So konnten Kunden beim Lebensmittelladen und beim Metzger gleichzeitig anstehen und zwischendurch schnell die Kinder vom Kindergarten abholen. Da könnten heutige Schlangesteher doch noch einiges lernen.

Mannheimer Morgen, 20.9.2014, Wirtschaft S. 7